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Das Buch »Die Erfindung des Nordens« von Bernd Brunner klärt über die erstaunlich facettenreiche Welt auf, die im Norden zu finden ist.
 Rezensiert von Eckart Roloff.

Woran denken wir in Europas Mitte, wenn der Blick nach Norden geht? An die kalte Arktis, deren Kälte inzwischen bedroht ist? An dadurch mitbedrohte Eisbären, an Rentiere, Elche und Papageientaucher? An die Wohlfahrtsstaaten dort oben, die bei vielen Parametern à la Lebensstandard, Zufriedenheit und Pressefreiheit so gut abschneiden, an recht stabile Demokratien, von denen drei unverdrossen (auch) Monarchien sind? An Nordlichter und Mitternachtssonne? An Steine mit rätselhaften Runen, oder Forscher wie Fridtjof Nansen, Roald Amundsen und Salomon Andrée?

Da wären noch Dichter wie Knut Hamsun, Henrik Ibsen, Halldór Laxness, Frans Eemil Sillanpää, August Strindberg und Selma Lagerlöf, Komponisten wie Edvard Grieg und Jean Sibelius, der Architekt Alvar Aalto. Oder, weit zurück, die Wikinger, die »Eddas« (Herder sah sie als »Rüstkammer eines neuen Deutschen Genies«), die Sagas, die Trolle. Und gefragte Krimiautoren unserer Tage, dazu Wintersportler auf Topplätzen.

Derlei Stichworte zeigen, dass da rasch etwas zusammenkommt, selbst bei nur kurzem Nachdenken. Ständig im Bewusstsein ist das freilich kaum, obgleich sich der Norden ein recht positives Image erarbeitet hat. Wir Mitteleuropäer achten, was Politik, Wirtschaft und Kultur angeht, mehr auf die Nachbarn im Süden, Westen und Osten. Doch es ist gut, auch nordwärts zu schauen. Bernd Brunner hat das getan, Autor vieler Sachbücher mit Blick für anregende Stoffe. Sein Band dazu heißt »Die Erfindung des Nordens – Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung«.

Auf Entdeckungstour

Nun, über das Erfinden lässt sich streiten, denn es geht mehr um das Entdecken jener Weiten, die wir Nordeuropa oder – das ist nicht identisch – Skandinavien nennen. Dazu kommen riesige Gebiete wie Grönland, Sibirien, Alaska und das nördliche Kanada. Alles Norden, was sonst? »Ein relativ flexibles Konzept oder Konstrukt«, wie Brunner befindet. Tafeln aus dem 16. Jahrhundert beweisen, wie rudimentär die Vorstellungen der damaligen Kartografen von der Lage und Größe dieser Länder waren. Und dennoch – zahlreiche Netzwerke des Austauschs entwickelten sich dort, politische Koalitionen, Handelsnetze, Expeditionen, freilich auch Kriege weit über den Dreißigjährigen hinaus, mit Schwedens mächtigem Heer.

Auf eine schöne Passage ist Brunner im Bericht »Viaggio Settentrionale« des italienischen Forschungsreisenden Paolo Negri von 1770 gestoßen. Zum Leben in Lappland, dem Land der Samen, notierte der: »Es stimmt, die Lappen leben nicht in Palästen, aber sie brauchen sich auch keine Sorgen darüber zu machen, dass diese eines Tages über ihnen zusammenbrechen könnten.«

Carl von Linné, der die Region 1732 sechs Monate lang bereiste, bescheinigte den Bewohnern »unbeschwertes Alter und ausgezeichnete Gesundheit«. Liegt hier gar eine Wurzel für das skandinavische Standardmerkmal Zufriedenheit? Herder war sich 1774 sicher, dass »im Norden ein neuer Mensch geboren ward, unter frischem Himmel«. Der britische Forscher Edvard Daniel Clarke, etwas später auch dort unterwegs, urteilte, in Lappland lasse sich »der Mensch in seinem Urzustand sehen«. Schlimm nur, dass jene Norweger, Finnen und Schweden, die sich als die einzig rechtmäßigen Bewohner sahen, die Kulturen und Sprachen der Minderheit jahrzehntelang unterdrückten. Auch die Beziehungen zu Russland waren von Distanz geprägt.

Das Buch befasst sich noch mit vielen weiteren Themen. Etwa mit Island, der Insel aus Eis und Feuer, oder mit dem Erkunden der Nordost- und der Nordwestpassage, dazu mit mancher Polarexpedition – all den Kapiteln darüber kann man gut und mit Gewinn folgen. Hier lässt sich viel aufnehmen und lernen. Die Überschriften zu den einzelnen Abschnitten sagen nicht immer aus, was diese enthalten, etwa »Durchgöttert und durchteufelt«, »Um Himmels willen, nicht nach unten schauen«, doch sie machen neugierig. Der Autor verzichtet oft darauf, seine Ausführungen zu belegen; sein umfangreiches Literaturverzeichnis verweist längst nicht immer auf das Zitierte. Ein Personenregister gibt es, leider kein Ortsregister.

Wo beginnt der Norden? Für Goethe war schon der Brenner die Barriere zwischen Süd und Nord, für Bonstetten, einen weit gereisten Schweizer Dichter der Goethezeit, lag die Grenze bereits nahe Lüneburg. Brunner bringt im Buch noch viel mehr zur Sprache: etwa religiöse Einstellungen, Mythologisches und Märchenhaftes, dem die Brüder Grimm, Ernst Moritz Arndt und Heinrich Heine nachspürten, auch Richard Wagner. Und dann der verhängnisvolle Glaube an das Arische. Schließlich die unkritische Begeisterung, die Kaiser Wilhelm II. für die Fjorde und ganz Norwegen empfand, mit seinem »kernigen Volk«.

Selbst ein Stefan Zweig sprach verklärend vom »magischen Zauber des Nordens«, einem »Neuland der Seele«. Doch für Dänemark und Norwegen folgten nach 1940 die Verheerungen durch die NS-Okkupanten. Gleichwohl hat heute, so Brunner, »der mythische Norden weiterhin Konjunktur«.

Ein sehr gelungenes und lesenswertes Buch mit vielen neuen Blicken auf alte Zeiten. Es lehrt, diesen Teil der Erde nicht zu verklären, aber auch nicht zu unterschätzen.

Die Erfindung des Nordens von Bernd Brunner, Verlag: Galiani, Berlin 2019,  Preis: 24,00 €

Der Rezensent Eckart Roloff, langjähriges Vorstandsmitglied der Deutsch-Norwegischen Gesellschaft, ist Wissenschaftsjournalist und Buchautor.
Von 2007 bis 2018 leitete er die Redaktion des deutsch-norwegischen Magazins »dialog«.